Sonntag, 4. Oktober 2020

Fratelli tutti – oder: Wie Geschwisterlichkeit, Multilateralismus und die synodale Vision verbunden sind

"Die Zeichen der Zeit zeigen deutlich, dass die menschliche Geschwisterlichkeit und die Sorge um die Schöpfung den einzigen Weg zur ganzheitlichen Entwicklung und zum Frieden bilden." (Ansprache von Papst Franziskus nach dem Angelus-Gebet am 4.10.2020; eigene Übersetzung)

In der heute veröffentlichten Sozialenzyklika Fratelli tutti wendet sich Papst Franziskus wie schon in seiner vor fünf Jahren erschienenen Schöpfungsenzyklika Laudato Si‘ „an jeden Menschen“ (LS 3), „an alle Brüder und Schwestern“ (FT 1) und schreibt darin eine „Form der Primatsausübung“ fort, die „keineswegs auf das Wesentliche ihrer Sendung verzichtet, aber sich einer neuen Situation öffnet“ (Ut unum sint 95), wie er sie bereits in der historischen Ansprache anlässlich des Festaktes 50 Jahren Bischofssynode am 17.10.2015 ausführte:

"Unser Blick weitet sich auch auf die ganze Menschheit. […] in einer Welt, die - obwohl sie zu Beteiligung, Solidarität und Transparenz in der öffentlichen Verwaltung einlädt - oft das Schicksal ganzer Völker in die gierigen Hände einer beschränkten Gruppe Mächtiger gibt. Als Kirche, die gemeinsam mit den Menschen unterwegs ist, die an den Mühen der Geschichte Anteil hat, pflegen wir den Traum, dass die Wiederentdeckung der unverletzlichen Würde der Völker und der Dienstcharakter der Autorität auch den Gesellschaften helfen kann, um sich auf Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit zu stützen, um eine bessere und würdigere Welt für die Menschheit zu bauen und für die Generationen, die nach uns kommen (EG 186-192, LS 156-162).“ (Ebd.) 

Interreligiöse Übereinkunft

Bezog sich Papst Franziskus in seiner Schöpfungsenzyklika insbesondere auf das Umweltengagement des orthodoxen Patriarchen Bartholomaios I. von Istanbul, ist die Sozialenzyklika Fratelli tutti über die „Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft“ (Untertitel) inspiriert von der wichtigen interreligiösen Erklärung vom Februar vergangenen Jahres, die er u.a. zusammen mit dem zu Beginn der Enzyklika zitierten Großimam der al-Azhar-Universität von Kairo, Scheich Ahmad al-Tayyeb unterzeichnete. (vgl. FT 3)

"Dort haben wir daran erinnert, dass Gott »alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen und sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben« (FT 3)

Diese Erklärung beschreibt darin auch den Anlass der Sozialenzyklika: „Jahrzehntelang schien es, dass die Welt aus so vielen Kriegen und Katastrophen gelernt hätte und sich langsam auf verschiedene Formen der Integration hinbewegen würde" (FT 10), formuliert der Papst. Doch nun sieht er mannigfache Anzeichen für Rückschritte und brandmarkt – ohne Namen von Regierenden zu nennen – populistische Tendenzen:

"Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen leben wieder auf. […] Was bis vor wenigen Jahren von niemandem gesagt werden konnte, ohne den Respekt der gesamten Welt ihm gegenüber aufs Spiel zu setzen, das kann heute in aller Grobheit auch von Politikern geäußert werden, ohne dafür belangt zu werden." (FT 11; 45)

 

Geschwisterlichkeit, Multilateralismus und die synodale Vision

Demgegenüber plädiert Papst Franziskus – so erläuterte Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin in einer Konferenz anlässlich der Veröffentlichung am Nachmittag in der Synodenaula im Einklang mit seinen Vorgängern und der katholischen Soziallehre für einen "Multilateralismus" und darüber

"für die Notwendigkeit einer 'politischen Weltautorität, die sich dem Recht unterordnet', ohne dabei 'notwendigerweise an eine persönliche Autorität zu denken' (FT 172). Die Geschwisterlichkeit ersetzt die Zentralisierung der Mächte durch eine kollegiale Funktion – die der 'synodalen' Vision, die der Führung der Kirche, wie sie Papst Franziskus wahrnimmt, nicht unähnlich ist –, die 'die Schaffung von wirksameren Weltorganisationen vorsehen, die mit der Autorität ausgestattet sind, die Beseitigung von Hunger und Elend und die feste Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte zu gewährleisten.' (FT 172) (Ebd. eigene Übersetzung)

Engagement in Welt und Kirche 

Aber "[d]ie Enzyklika „Fratelli tutti“ wirft nach Ansicht des Münchner Kardinals Reinhard Marx letztlich [auch] die Frage auf, wie die Kirche ihren eigenen Forderungen nachkommt. Denn alle Prinzipien der Menschenwürde und der Personalität, die in der Gesellschaft gelten, dürften von der Kirche im Niveau nicht unterlaufen werden, erklärte Marx am Montagabend in München bei einer Veranstaltung in der Katholischen Akademie in Bayern." (Vaticannews vom 6.10.2020) *

"Es könne nicht sein, dass etwa in der Kirche hingenommen werde, dass von oben nach unten regiert werde, während zugleich von ihr der Appell komme, in der Gesellschaft müsse auf Dialog geachtet werden." (Ebd.) *

So wendet sich der Appell in die Welt sich auch an die Kirche selbst und ermutigt zum Engagement.* "Jeder Tag bietet uns eine neue Gelegenheit, ist eine neue Etappe. Wir dürfen nicht alles von denen erwarten, die uns regieren; das wäre infantil. Wir haben Möglichkeiten der Mitverantwortung, die es uns erlauben, neue Prozesse und Veränderungen einzuleiten und zu bewirken.“ (FT 72) geschwisterlich, geleitet von der Überzeugung, dass "Gottes Liebe […] für jeden Menschen gleich [ist], unabhängig von seiner Religion" (FT 281; Zitat aus dem Dokumentarfilm, den Wim Wenders über den Papst gedreht hatte) und in der "synodalen Vision".


*ergänzt am 6.10.2020