Freitag, 21. Januar 2022

"Bilanz des Schreckens" über sexuellen Missbrauch und seine Vertuschung - oder: Die Notwendigkeit eines Synodalen Wegs der Reformen

Als eine "Bilanz des Schreckens" bezeichnet die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl das am 20. Januar 2022 vorgestellte Gutachten „Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtlich Bediensteter im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 – 2019“. Auf 1900 Seiten werden „Verantwortlichkeiten, systemische Ursachen, Konsequenzen und Empfehlungen“ und mindestens 497 Opfer - überwiegend männliche Kinder und Jugendliche – und ebenfalls mindestens 235 mutmaßliche Täter – darunter 173 Priester und neun Diakone - aufgeführt.

Marion Westpfahl berichtet bei der Vorstellung des Gutachtens, dass ihre Kanzlei bereits vor über zehn Jahren eine damals nicht veröffentlichte Studie zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising erarbeitet hatte. Die Auswertung musste sich zu dieser Zeit im Wesentlichen auf die Informationen der zur Verfügung stehenden Personalakten beschränken. Auch wenn die Kernaussagen dieser Studie - insbesondere auch zu den systemischen Ursachen - nach wie vor Bestand haben, ergaben „die zunehmende Bereitschaft Betroffener sich zu offenbaren, somit die Ausschöpfung im Jahre 2010 noch nicht zur Verfügung stehender Erkenntnisquellen“ bei dem aktuellen Gutachten eine neue Sicht auf viele Missbrauchsfälle.

Heraus sticht bei dem aktuellen Gutachten vor diesem Hintergrund ein Joseph Ratzinger als damaligem Erzbischof von München und Freising im Jahr 1980 angelasteter Fall, nach dem er den verurteilten Essener Missbrauchstäter Peter H. in seine Diözese übernahm und in der Seelsorge weiter als Priester einsetzte. Bislang hatte der spätere Papst Benedikt XVI. eine Verantwortung dafür – und damit auch für die durch diesen Priester begangenen weiteren Missbrauchstaten - und ein Mitwissen immer bestritten - ebenso wie in Bezug auf drei weitere Missbrauchsfälle in seiner Münchener Amtszeit.

Die Münchner Anwaltskanzlei zweifelt nun Ratzingers Angaben zu dem Fall Peter H. stark an, indem es „die Kopie eines Protokolls vorlegt, wonach Ratzinger - anders als von ihm behauptet - durchaus an der Sitzung teilgenommen hatte [in der die Aufnahme von Peter H. verhandelt wurde; H.D.]. Seine Teilnahme daran sei belegt, «weil das Protokoll Dinge referiert, die nur er wissen kann aus einem Gespräch mit Papst Johannes Paul II.» betont [der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas] Schüller. Dass es bei diesem Gespräch ausgerechnet um die Entziehung der Lehrerlaubnis für Ratzingers langjährigen liberalen Widersacher, den Theologen Hans Küng, ging, nannte Schüller einen «Treppenwitz der Geschichte»." (Zeit online vom 20.1.2022

Auch wenn das Überführen eines ehemaligen Papstes bei einer offensichtlichen Unwahrheit den "Verantwortungsverdunstungsbetrieb" katholische Kirche (Christiane Florin) quasi auf oberster Ebene bloßstellt - eine moralische Bankrotterklärung des ehemals höchsten Kirchenrepräsentanten sondergleichen und weiterer Tiefpunkt der Krise der katholischen Kirche in Deutschland -, ist gerade das die Intention der Studie auch über alle anderen aufgeführten Missbrauchs- und Vertuschungstaten hinweg:

"Wesentlicher Auftrag ist Feststellung von Verantwortlichkeiten und Verantwortlichen und deren Benennung. […] Ausschließlich über die Benennung der Individualschuld hinaus wird durch die kritisch analytische Betrachtung des Verhaltens der katholischen Kirche als Institution die Chance eröffnet, den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und einen Prozess der Selbstreinigung in Angriff zu nehmen." (Marion Westpfahl am 20.1.2022)

Welche nächsten Schritte sowohl im Erzbistum München und Freising – erwartet in einer angekündigten Pressekonferenz in einer Woche - als auch im Vatikan nach einer "eingehenden Prüfung" der Studie gegangen werden, bleibt abzuwarten. Unzweifelhaft ist, dass Verantwortung übernommen werden und Konsequenzen gezogen werden müssen. Kardinal Marx - dem selbst in zwei Fällen Fehlverhalten in Form von Untätigkeit vorgeworfen wird - verweist in einer ersten Reaktion am selben Tag – wie bereits im Juni des vergangenen Jahres – auf die Notwendigkeit eines grundlegende Reformen einschließenden Synodalen Wegs.

"Aber es geht um mehr, es geht um die Erneuerung der Kirche, es geht um das, was wir auch im Synodalen Weg in Deutschland versuchen und vorantreiben. Denn dieser Synodale Weg ist ja ausgegangen von der MHG-Studie und ihren Analysen. Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs kann nicht getrennt werden vom Weg der Veränderung, der Erneuerung und der Reform der Kirche." (Pressestatement am 20.1.2022)

Es gibt keine Alternative. Oder noch einmal mit den Worten Marion Westpfahls gesagt:

"...etwas mehr als 10 Jahre später [nach dem ersten Gutachten] sogar, geht es nicht mehr darum Grunderkenntnisse zu gewinnen, sondern darum unerlässliche Konsequenzen zu ziehen, die ohne die Barriere von Tabuzonen zu definieren sein werden."