An einem „toten Punkt“ der Kirche: das Rücktrittsgesuch von Kardinal Reinhard Marx – oder: "Ein Wendepunkt aus dieser Krise kann aus meiner Sicht nur ein 'synodaler Weg' sein".*
Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, in einer persönlichen Erklärung zum Brief vom 21. Mai 2021 an Papst Franziskus:
"Ich
habe am 21. Mai 2021 den Heiligen Vater gebeten, meinen Verzicht auf das Amt
des Erzbischofs von München und Freising anzunehmen, und meine weitere
Verwendung in seine Entscheidung gegeben. Der Papst hat mir nun mitgeteilt,
dass dieser Brief veröffentlicht werden kann, und dass ich meinen bischöflichen
Dienst bis zu seiner Entscheidung weiterhin ausüben soll.
In
den letzten Monaten habe ich immer wieder über einen Amtsverzicht nachgedacht,
mich geprüft und versucht, im Gebet und im geistlichen Gespräch durch
„Unterscheidung der Geister“ eine richtige Entscheidung zu treffen. Ereignisse
und Diskussionen der letzten Wochen spielen dabei nur eine untergeordnete
Rolle.
In den letzten Jahren wurden mir wiederholt Fragen gestellt, die mich seitdem begleiten und mich immer wieder neu herausfordern. Ein amerikanischer Reporter fragte mich in einem Gespräch über die Missbrauchskrise in der Kirche und die Ereignisse des Jahres 2010: „Eminence, did this change your faith?“ Und ich antwortete: „Yes!“ Im Nachgang wurde mir deutlicher, was ich gesagt hatte. Diese Krise berührt nicht nur das Feld einer notwendigen Verbesserung der Administration – das auch -, es geht mehr noch um die Frage nach einer erneuerten Gestalt der Kirche und einer neuen Weise, heute den Glauben zu leben und zu verkünden. Und ich fragte mich: Was bedeutet das für dich persönlich?
Die von der MHG-Studie und dann in der Vereinbarung der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) angeregten und geforderten Aufarbeitungsprozesse sind ja in verschiedenen Bistümern auf dem Weg. Untersuchungen der Akten und Nachforschungen über mögliche konkrete Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit, einschließlich der Frage nach den jeweiligen Verantwortlichkeiten, sind unverzichtbare Bausteine der Aufarbeitung, aber sie umfassen nicht das gesamte Feld einer umfassenderen Erneuerung. Durchgängig haben die bisher vorliegenden Untersuchungen und Gutachten deutlich gemacht, dass es auch um „systemische“ Ursachen und strukturelle Gefährdungen geht, die angegangen werden müssen. Beides muss zusammen gesehen werden. Deshalb habe ich mich sehr eingesetzt für das Projekt des Synodalen Weges, der die von der MHG-Studie und anderen identifizierten Punkte aufgreift und theologisch vertieft. Dieser Weg muss weitergehen!
Die
andere Frage wurde mir unter anderem in der Pressekonferenz der Deutsche Bischofskonferenz
nach der Vorstellung der MHG-Studie im September 2018 gestellt: ob angesichts
der Präsentation der Studie einer der Bischöfe Verantwortung übernommen und seinen
Rücktritt angeboten habe. Diese Frage habe ich mit „Nein“ beantwortet. Und auch
hier habe ich im Nachgang immer stärker gespürt, dass diese Frage nicht einfach
beiseitegeschoben werden
kann.
Aber
die oben erwähnten Fragen bleiben. Ich bin 42 Jahre Priester und fast 25 Jahre
Bischof, davon fast 20 Jahre Ordinarius eines jeweils großen Bistums, und
natürlich werde ich mich möglichen Fehlern und Versäumnissen in einzelnen
konkret zu prüfenden Fällen auch meiner Amtszeiten stellen, die dann
entsprechend angeschaut und nach objektiven Kriterien bewertet werden müssen.
Es kann aber – so denke ich – nicht ausreichen, die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme
zu beschränken auf aus den Überprüfungen der Aktenlage hervorgehende vor allem
kirchenrechtliche und administrative Fehler und Versäumnisse. Ich trage doch
als Bischof eine „institutionelle Verantwortung“ für das Handeln der Kirche insgesamt,
auch für ihre institutionellen Probleme und ihr Versagen in der Vergangenheit.
Und habe ich nicht auch durch mein Verhalten negative Formen des Klerikalismus
und die falsche Sorge um den Ruf der Institution Kirche mit befördert? Vor
allem aber: Ist der Blick auf die Betroffenen sexuellen Missbrauchs wirklich
immer zentrales Leitmotiv gewesen? Erst seit 2002, und konsequenter seit 2010,
haben wir diese Orientierung wirklich übernommen, und es ist auch viel in Gang
gekommen, aber wir sind dabei noch lange nicht am Ziel. In diesem Zusammenhang
ist auch die Gründung der Stiftung „Spes et Salus“ zu sehen, die dazu beitragen
soll, die Anliegen und Bedürfnisse von Betroffenen in den Mittelpunkt zu
stellen.
Mit
Sorge sehe ich, dass sich in den letzten Monaten eine Tendenz bemerkbar macht,
die systemischen Ursachen und Gefährdungen, oder sagen wir ruhig die
grundsätzlichen theologischen Fragen, auszuklammern und die Aufarbeitung auf
eine Verbesserung der Verwaltung zu reduzieren.
(Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender Deutschen Bischofskonferenz, warnt in den Tagesthemen am 4.6.21:«Alle, die denken, dass die Kirche aus dieser massiven Krise herauskommen könnte durch ein paar Schönheitsreparaturen äußerlicher Art, juridischer Art, verwaltungsmäßig, die täuschen sich. Wir haben solches Systemversagen wahrgenommen. Darauf kann es nur systemische Antworten geben, die fundamental sind. Diese Botschaft sendet Kardinal Marx heute sehr deutlich aus. Die stärken uns im begonnenen Synodalen Weg, denn genau diese Arbeit vollzieht sich dort.»)
Die
Bitte um Annahme des Amtsverzichtes ist eine ganz persönliche Entscheidung. Ich
möchte damit deutlich machen: Ich bin bereit, persönlich Verantwortung zu
tragen, nicht nur für eigene mögliche Fehler, sondern für die Institution
Kirche, die ich seit Jahrzehnten mitgestalte und mitpräge. Neulich wurde
gesagt: „Aufarbeitung muss wehtun.“ Mir fällt dieser Schritt nicht leicht. Ich
bin gerne Priester und Bischof und hoffe, auch in Zukunft für die Kirche
arbeiten zu können. Mein Dienst für diese Kirche und die Menschen endet nicht.
Aber um eines notwendigen Neuanfangs willen möchte ich Mitverantwortung für die
Vergangenheit übernehmen. Ich glaube, dass der „tote Punkt“, an dem wir uns im
Augenblick befinden, zum „Wendepunkt“ werden kann. Das ist meine österliche
Hoffnung und dafür werde ich weiter beten und arbeiten."
(Quelle: Erzbistum München-Freising)