Dienstag, 16. Oktober 2018

„Manual of life“ – oder: Über die Berufung jedes Menschen, die Unterscheidung in einer pluralen Welt und die neue Relatio der Deutschen Sprachgruppe



In der Relatio der deutschen Sprachgruppe – parallel zu den Rückmeldungen der anderen 13 'Circoli minori' – zum II. Teil des Instrumentum laboris heißt es:




"Wir bekräftigen zunächst ein grundsätzliches Ja zur vorfindlichen, säkularer werdenden Welt - und zu allem, was diese Welt auch an Gutem und Herausforderndem für uns bereithält. Freilich schauen wir auf diese Welt auch mit einer differenzierenden Unterscheidung. Denn in ihr nehmen wir Phänomene wahr, die die Welt zwar im guten Sinn pluraler werden lassen, aber auch solche, die viele junge Menschen auch unsicherer machen oder Entfremdungserfahrungen verstärken - zum Beispiel im Blick auf die Findung der eigenen Identität. Daher sind wir der Meinung, dass es auch einen „unterscheidenden“, vertiefenden Blick benötigt auf die Phänomene, die die Jugendlichen am häufigsten nennen: etwa die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Sexualität und Partnerschaft, die Rolle der Frau, die Digitalisierung, der Wunsch nach authentischen Begleitern. Und wir fragen, was wir als Kirche heute lernen, wenn diese Fragen so drängend auf uns kommen?"

Kardinal Peter Turkson mit Erzbischof Jaime Spengler, O.F.M,
Erzbischof von Porto Alegre (Brasilien)
Kardinal Peter Turkson, Präfekt des Anfang 2017 neuerrichteten Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und einer von fünf gewählten bischöflichen Mitgliedern des synodalen Abschlussdokumentes, bringt die Gedanken des Circulus Germanicus mit der Formulierung auf den Punkt, dass die Synode ein „Manual für das Leben“ erstellen müsse, das jede/r Jugendliche/r heute brauche. Und er untermauert dieses Bedürfnis mit einem zu Beginn der Pressekonferenz von Paolo Ruffini angedeuteten Zitat von Kardinal John Henry Newman über die Berufung jedes einzelnen Menschen, das den Ergebnisbericht seiner eigenen Arbeitsgruppe, des ‚Circulus Angelicus A‘, einleitet:

"God has created me to do Him some definite service; He has committed some work to me which He has not committed to another. I have my mission... I have a part in this great work; I am a link in a chain, a bond of connection between persons. (Cardinal Henry Newman, Meditations on Christian Doctrine)” 

"Gott hat mich erschaffen, um ihm einen bestimmten Dienst zu tun. Er hat  mich auf einige Arbeit verpflichtet, die er für einen anderen nicht vorgesehen hat. Ich habe meine Mission... Ich habe an dieser großartigen Arbeit Anteil. Ich bin ein Glied in einer Kette, eine Verbindung zwischen Personen.“ (eigene Übersetzung)


Und noch wichtiger als ein wohlformuliertes, wohlfeiles Schlussdokument am Ende der synodalen Beratung zu haben, sei aber – so Kardinal Louis Raphaël I Sako, Patriarch der Chaldäisch-katholischen Kirche – der Dialog mit der Jugend und eine veränderte Praxis:

“Il dialogo con loro, come cambieremo la pastorale, conta ancora di più del documento finale.” 

„Der Dialog mit der Jugend, wie wir die Pastoral verändern, zählt noch mehr als das Abschlussdokument.“ (eigene Übersetzung)


Dass immer wieder in den Pressekonferenzen das genaue Procedere der Genese und der endgültigen Abstimmung des Schlussdokumentes von Paolo Ruffini wiederholt werden muss, zeigt bei aller unter Beweis gestellten Transparenz der synodalen Erarbeitung – mit der Wahl der mitarbeitenden Bischöfe in der Abschlussredaktion und der Veröffentlichung der Eingaben -, welche Zweifel von außen geschürt werden, ob ein Ergebnis der Synode schon feststehe, ein Abschlussdokument schon geschrieben sei etc. Dieselben Zweifel wurden bereits bei den Familiensynoden (vgl. den Blog-Beitrag vom 7.10.2015)  immer wieder genährt und haben mit dem Synodenverlauf und dem synodalen Prozess, wie ich ihn seit dem Jahr 2013 sehr intensiv verfolge, nicht viel zu tun – außer, dass man ihn eben nicht will.


Und dennoch zählt natürlich auch das verschriftlichte „Manual des Lebens“ , das als Manual – wie Kardinal Turkson ebenso wie schon gegen Ende der vorausgegangenen Familiensynode am 23.10.2015 sehr eindrücklich illustriert – jedem Menschen heute schon bei jedem noch so kleinen, technischen Gerät mitgegeben werde und umso mehr auch in einer heute verständlichen Sprache und Form unserer Jugend angeboten werden müsse:


Die Eingabe der deutschen Sprachgruppe – jetzt in vollständigem Zitat – kann bereits in dieser Weise gelesen werden:



Die Relatio der Deutschen Sprachgruppe (Relatio – Circulus Germanicus) in der vollständigen Länge (Moderator: Bischof Felix Genn, Münster; Relator: Bischof Stefan Oster, Passau)


1. Das Ja zu dieser Welt – aber mit Unterscheidung


Wir bekräftigen zunächst ein grundsätzliches Ja zur vorfindlichen, säkularer werdenden Welt - und zu allem, was diese Welt auch an Gutem und Herausforderndem für uns bereithält. Freilich schauen wir auf diese Welt auch mit einer differenzierenden Unterscheidung. Denn in ihr nehmen wir Phänomene wahr, die die Welt zwar im guten Sinn pluraler werden lassen, aber auch solche, die viele junge Menschen auch unsicherer machen oder Entfremdungserfahrungen verstärken - zum Beispiel im Blick auf die Findung der eigenen Identität. Daher sind wir der Meinung, dass es auch einen „unterscheidenden“, vertiefenden Blick benötigt auf die Phänomene, die die Jugendlichen am häufigsten nennen: etwa die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Sexualität und Partnerschaft, die Rolle der Frau, die Digitalisierung, der Wunsch nach authentischen Begleitern. Und wir fragen, was wir als Kirche heute lernen, wenn diese Fragen so drängend auf uns kommen?


2. Wir haben einen einzigartigen Glauben


Wir meinen, dass wir dann in einem zweiten Schritt das Unerhörte, aber Zentrale des christlichen Glaubens erneut bekräftigen sollten: Dass wir einem Gott begegnen dürfen, der in Jesus ein Gesicht und einen Namen hat; einen Gott, der sich uns und unserem Leben konkret zuwendet, der uns kennt und liebt und uns in die Freiheit führen will. Wir wollen dann deutlich machen, dass unser Glaube vor allem darin besteht, eine freie Antwort auf diese Zuwendung Gottes zu geben – und dass uns diese Antwort wiederum in die größere Freiheit und in die Fülle des Lebens führt. In der Art und Weise, wie wir diese Antwort auf Gottes immer bestehenden Anruf an uns geben, entfaltet sich die Berufung jedes Menschen auf je einzigartige Weise, freilich auch durch Höhen und Tiefen, durch Krisen und Gelingen hindurch.


3. Wir sind zuerst Hörende und nicht schon die Wissenden


Wir wollen weiterhin festhalten, dass es für jede Berufungserkenntnis und für jede Berufungsbegleitung darum geht, die Sehnsüchte, Pläne, Hoffnungen und Leidenschaften junger Menschen, aber auch ihre Unruhe, Ängste und Unsicherheiten immer wieder neu zu hören und verstehen zu lernen. Wir wollen als die Älteren der Versuchung widerstehen, dass wir schon alles wüssten darüber, wie das Leben der jungen Menschen sich entfalten soll und wie ihr gelingendes Leben auszusehen habe. Vielmehr wollen wir mit ihnen zusammen je neu Wahrnehmende, Hinschauende werden. Wir wollen miteinander sehen lernen, wo und wie sich im je einzelnen jungen Leben Spuren der Gegenwart Gottes zeigen können.


4. Wir lernen mit den Jugendlichen die Weise sie zu begleiten


Wir wollen ihren Herzschlag lernen und darin Mithörende sein für den leisen Impuls Gottes für ihr Leben; wir wollen unsere Deutungskompetenz je neu mit ihnen zusammen und auch von ihnen lernen, weil jeder als unersetzbar Einzelner, nicht Wiederholbarer von Gott gerufen wird. Wir wollen aber auch Begleiter sein, die schon aus eigener, längerer Lebenserfahrung unterscheiden helfen lernen, die auch in der Rückschau schon ein wenig mehr gelernt haben, wie sich die Kontexte, Erfahrungen, Entscheidungen und vermeintliche Zufälle in einem Leben ineinander fügen zur Gestalt eines einzigartigen Lebensweges. Wir wollen im Hören auf Gottes Geist, auf die jungen Menschen und im Hören auf unseren eigenen Herzschlag Hermeneuten (=Deutern) und Mäjeuten (= Geburtshelfer) des göttlichen Lebens für sie und mit ihnen sein. Wir wollen mit ihnen und von ihnen unterscheiden lernen, wo die guten Kräfte am Werk sind und wo die, die Angst machen oder die, die einschließen und destruktiv sind.


5. Gottes Geist ist verheißend und macht keine Angst


Wir glauben, dass Gott immer in die größere Freiheit, in die größere Freude und Liebe führen will – und dass sein Geist wohl manchmal beunruhigen kann, aber nie einfach Angst macht oder in die Ausweglosigkeit führt, sondern immer neu verheißend ist und den nächsten Schritt zeigt in ein größeres Leben. Wir glauben, dass Gott aus unvordenklicher Liebe für jeden von uns groß denkt. Wir glauben, dass er wie ein liebevoller Künstler an der Gestalt jedes Herzens so arbeitet, dass er selbst darin immer mehr Wohnung nehmen kann, auf dass jeder Mensch zu einem unverwechselbaren, unvertauschbaren und unersetzbaren Original seiner schenkenden Liebe heranreifen kann. Damit der Berufene dann seinerseits immer besser daran mitwirken kann, sein Zeuge zu sein und so immer neu am Aufbau einer besseren Welt und einer authentischeren Kirche mitwirken kann.


6. Die Berufung und ihre innere Unterscheidung


a. Unser Gespräch über die Frage nach der Berufung ergibt Folgendes – und wir würden auch vorschlagen, das gesamte Kapitel in dieser Hinsicht zu ordnen. Jeder Mensch ist als einzigartiges, unvertauschbares und nicht wiederholbares Geschöpf Gottes ins Leben gerufen. Das Gespür für diese Einzigartigkeit führt auch viele Nichtgläubige zur Erfahrung, dass sie auch auf einen Lebensweg gerufen sind, den nur sie selbst unvertretbar gehen können. Auch Menschen ohne Gottesglauben sprechen dann nicht selten von ihrem Leben und ihrem Beruf als Berufungsweg im Sinne einer Antwort, die sie auf die Herausforderungen ihres Lebens geben und die sie nicht selten in großer Hingabe an Menschen oder an eine bestimmte Aufgabe vollziehen.


b. Einig ist sich die Gruppe darin, dass die Sakramente der Initiation als Zugehörigkeit zu Christus tiefer und ausdrücklicher in die Berufung zum Christsein und zum Volk Gottes führt. Gott hat in Christus ein menschliches Antlitz bekommen und durch Tod und Auferstehung eine neue Dimension von Leben, von Sinn und vom Reich Gottes eröffnet. Viele Christen erfahren sich daher in die Nachfolge Christi oder in dieses neue Leben berufen. Sie lassen sich von Ihm im Glauben inspirieren, sie versuchen ihr Leben an seinem auszurichten – und sie tun dies in den verschiedenen Lebensformen: als Eheleute, als Single und in unterschiedlichen Berufen und Lebensweisen in Welt und Gesellschaft und bei einigen auch in einem spezifischen Dienst in der Kirche.


c. In einem engeren Sinn erfahren einige Menschen den Anruf Christi als Hineingezogensein in seine Lebensform, die sich in der Ehelosigkeit und den anderen evangelischen Räten ausdrückt. Sie spüren, dass sie von Christus persönlich bewegt und im biblischen Sinne erwählt werden, alles auf eine Karte zu setzen und sich Ihm als Person ganz zur Verfügung zu stellen zum Dienst am Volk Gottes. Aus dieser Verfügbarkeit und Entschiedenheit erwächst dann die konkrete Gestalt eines geweihten Lebens oder des priesterlichen Dienstes im Geist der evangelischen Räte.


7. Berufung ist ein analoger Begriff


In diesem Sinne verstehen wir Berufung als „analogen Begriff“. Wichtig ist uns auch die Einsicht, dass „Berufung“ nicht ein einmaliges und dann abgeschlossenes Ereignis ist, sondern sich durch einen ganzen Lebensweg hindurch entfaltet, nicht wie ein genau fixierter Plan Gottes, sondern wie ein Weg in die je größere Freiheit und Hingabe – freilich auch durch Höhen und Tiefen hindurch. Wir glauben auch, dass der Sinn für die Berufung in einem Menschen wachsen und sich vertiefen kann durch das je konkrete Sich-einlassen auf die Wirklichkeit, durch die Übernahme von Verantwortung, durch die Begegnung mit den Mitmenschen, durch die konkrete Begegnung mit Christus, im Gebet, in seinem Wort, in den Sakramenten und in der Gemeinschaftserfahrung der Kirche.


8. Das Fehlen der Erfahrung: Ich bin bedingungslos geliebt


Freilich spüren wir, dass die konkrete Erfahrung der Menschen, wirklich unbedingt und zuerst geliebt zu sein von Christus oft nicht sehr verbreitet oder nicht besonders tief in den Herzen der Menschen angekommen ist. Allzu häufig glauben wir, dass wir zuerst Leistung in welcher Form auch immer bringen müssten, damit Gott uns sieht und annimmt. Eine der wichtigsten und grundlegendsten Aufgaben von allen Gliedern der Kirche ist es daher, jungen Menschen zu zeigen, dass sie einfach deshalb geliebt sind, weil es sie gibt, weil sie da sind und weil sie sie selbst sind – und nicht, weil sie schon brav oder angepasst oder leistungsfähig sind oder sich durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen oder einem Gruppendruck folgen. Das tiefe Bewusstsein für eine christliche Berufung kann im Grunde nicht erwachen, wenn solche Erfahrungen des unbedingten Geliebt-seins fehlen.


9. Begleitung analog und die Gefahr des geistlichen Missbrauchs


Wir verstehen ebenso „Begleitung“ als analogen Begriff: Weit verstanden meint er die Verantwortung aller Menschen füreinander, besonders als Gemeinschaft der Kirche. Junge Menschen werden durch viele Menschen begleitet, insbesondere auch in der Familie, durch ihre eigenen Freunde oder durch ältere Jugendliche; weiterhin durch alle erfahreneren Menschen, die ihnen wohlgesonnen sind, etwa in Schule, Ausbildung, in Sportvereinen oder anderen Gemeinschaftsformen. Im engeren Sinn ist Begleitung dann die spezifische Lebensbegleitung mit dem Ziel, Gottes Wirken im Leben eines jungen Menschen zu erkennen oder sie bei anstehenden Entscheidungen zu unterstützen. Wir legen Wert darauf, dass psychologische oder psychotherapeutische Hilfen dabei sehr hilfreich sein können, dass sie aber unterschieden sind von geistlicher Begleitung und dass sie zudem fachliche Professionalität brauchen. Freilich ist auch ein gesunder Menschenverstand unerlässlich. Besonders wichtig ist es für uns, auch auf die Gefahr des Missbrauchs in der Begleitung hinzuweisen: dem Missbrauch der Macht, dem Missbrauch des Vertrauens, dem Missbrauch, der in der Schaffung eines unfreien Abhängigkeitsverhältnisses besteht oder in sexueller Gewalt. Unsere deutliche Empfehlung ist daher, dass der Begleiter sich selbst einer Begleitung unterzieht und eine Form der Supervision wählt.

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